BAD NAUHEIM, WIEGE DES DEUTSCHEN STATISTISCHEN BUNDESAMTES

 

Foto/Copyright: United States National Archive
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Es zeigt das USSBS-Team in der Trinkkuranlage Bad Nauheim im Jahre 1945; Nationalökonom John Kenneth Galbraith befindet sich in der Bildmitte mit Blickrichtung Kamera

 

 

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Reichsgruppe Industrie - Statistische Ämter

Lange vor dem Ende des zweiten Weltkrieges wurde in Amerika über die Zukunft Deutschlands nach dem Krieg beraten. Dabei war die Regierung in zwei Lager gespalten. Die Finance Division um Morgenthau plante, Deutschland zu einem Agrarstaat zu machen, von dem nie wieder eine Kriegsgefahr ausgehen könne (Morgenthau-Plan). Die Economic Division mit der Industry Branch um Marshall und Hoover dagegen plädierte aus wirtschaftlichen und politischen Gründen für einen industriellen Wiederaufbau (Marshall-Plan). Beide Gruppen führten Untersuchungen an, um ihre Standpunkte zu untermauern. Das sehr komplexe Thema soll hier nicht weiter vertieft werden. Dazu gibt es zahlreiche Publikationen.

 

Hier geht es lediglich um die Geschehnisse in Bad Nauheim, die damit in Zusammenhang stehen und bei denen das ehemalige Badehaus 8 eine wichtige Rolle gespielt hat. Es stand an der Stelle des heutigen Parkdecks Sprudelhof und wurde 1954 abgerissen.

Einer der Unternehmerverbände im Dritten Reich war die Reichsgruppe Industrie, vergleichbar mit dem heutigen BDI. Diese Gruppe war in verschiedene Fachbereiche gegliedert, darunter die Abteilung für maschinelles Berichtswesen. Das war eine Fachabteilung zur statistischen Erfassung von Produktionszahlen, insbesondere für das Rüstungs- und Sanitätswesen und wichtig für den Nachschub während des Krieges. Sie unterstand Albert Speer, dem Reichsminister für Bewaffnung und Munition. Auf Grund der zunehmenden Bombardierungen wurde diese Gruppe aus Berlin in die Nähe von Gera verlagert. Für die Amerikaner waren das nach der Kapitulation unschätzbare Daten, die sie unbedingt in ihren Besitz bringen wollten. Nach Kriegsende fanden sie nach fieberhafter Suche die Abteilung in Gera und brachten sie kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee in Thüringen mit allen technischen Geräten und den Mitarbeitern nach Bad Nauheim ins Badehaus 8. Diese deutschen Fachleute waren sehr froh, auf diese Weise in den Westsektor zu kommen! Da es zu der Zeit in Bad Nauheim nur Gleichstrom gab, versorgte man die Geräte mittels eines Generators mit dem nötigen Wechselstrom, den man aus der teilweise noch intakten Stromanlage im zerstörten Führerhauptquartier „Adlerhorst“ in Langenhain-Ziegenberg requirieren konnte. Die Reichsgruppe Industrie wurde umbenannt in Statistical Office und der Industry Branch eingegliedert. Durch die Auswertung der Daten erhoffte man sich nicht nur wichtige Informationen zu der noch vorhandenen Wirtschaftskraft und damit für die Entscheidung zu einem Wiederaufbau Deutschlands und die Berechnung der Reparationszahlungen, sondern auch zu den Auswirkungen des Luftkrieges.

 

Die Amerikaner konnten sich nämlich nicht erklären, warum die massiven Bombardierungen von Industrieanlagen die Produktion von Rüstungsmaterial keineswegs behinderten, sondern dass sie teilweise sogar noch gesteigert wurde. Um dieses Phänomen auch im Hinblick auf die Effektivität der amerikanischen Air Force und der englischen Royal Air Force (RAF) zu untersuchen, wurde auf Anregung des Bankiers George Ball 1944 die United States Strategic Bombing Survey (USSBS) eingerichtet, d.h. eine Untersuchung der Bombardierungsstrategie. Dazu wurde eine Kommission aus namhaften Experten aus Wirtschaft, Politik und Militär gebildet, zu der auch der Nationalökonom John Kenneth Galbraith gehörte. Man erwartete von der USSBS eine objektive Beurteilung des Luftkrieges, denn für die Generäle zählten oft nur die militärischen Erfolge oder Verluste aber nicht die gesamtwirtschaftlichen Aspekte. Zudem sollten nicht nur die Auswirkungen des Bombenkriegs auf die Wirtschaft untersucht werden, sondern auch auf die Zivilbevölkerung. Das führte zu absurden Befragungen von Zivilisten, die James Stern in seinem Buch „Die unsichtbaren Trümmer“ beschreibt. Stern wohnte zu Beginn seiner Tour als Interviewer einige Tage im Parkhotel in Bad Nauheim.

 

Im Frühsommer 1945 kam Galbraith mit dem USSBS-Team nach Bad Nauheim, um hier die Bearbeitung und Auswertung des Datenmaterials im Badehaus 8 vorzunehmen. In seinen Memoiren erinnert er sich:

 

“George Ball and I made our headquarters that spring and summer in Bad Nauheim, the pleasant town on the autobahn 20 miles north of Frankfurt. We occupied a small private hotel, Villa Grünewald on the outskirts; our economics and the supporting military staff were in the much larger Park Hotel in the town center.” (Anmerkung: es gab eine Villa Grünewald in der Lindenstraße 11, nicht zu verwechseln mit dem Hotel Villa Grunewald in der Terrassenstraße 10, in dem Elvis Presley übernachtete).

Galbraith reiste zwischendurch nach Glücksburg, um dort Albert Speer zu verhören, war aber besonders interessiert auch an Rolf Wagenführ, einem der führenden Köpfe der Wirtschaftsbehörden in Berlin und enger Vertrauter Speers. Wagenführ, der inzwischen mit den Sowjets zusammenarbeitete, hatte sich in den Berliner Ostsektor abgesetzt, als er erfuhr, dass die Amerikaner ihn vernehmen wollten. Die Amerikaner hatten ihn wohl als einen Wendehals erkannt und ihm den Spitznamen „Roastbeef“ verpasst: außen braun, innen rot. Zwei Mitarbeiter von Galbraith fuhren nach Berlin, entführten in einer filmreifen Aktion Wagenführ mitten in der Nacht buchstäblich aus seinem Bett heraus und brachten ihn nach Bad Nauheim. Begreiflicherweise waren die Sowjets sehr erbost über diesen Coup. Marschall Gregory Zhukow (deutsche Schreibweise: Georgi Schukow) beschwerte sich persönlich bei Eisenhower, der diese Vorgehensweise natürlich nicht gutheißen konnte. Die Wogen konnten geglättet werden, als ein Mitglied des Galbraith-Teams, der Kommunist Kuczinsky, sich bereit erklärte, Wagenführ nach der Befragung durch Galbraith nach Berlin zurück zu begleiten. Unterdessen arbeitete der Wirtschaftswissenschaftler Calvin Hoover an seinem Bericht über die gegenwärtige Wirtschaftssituation in Deutschland im Hinblick auf einen Wiederaufbau. Es lag auf der Hand, dass ein Agrarstaat dauerhaft finanziell von Amerika unterstützt werden müsse und zudem auch keine von den Siegermächten geforderten Reparationszahlungen geleistet werden konnten. Stattdessen müsse man den industriellen Wiederaufbau und die schrittweise Unabhängigkeit fördern, auch im Hinblick auf den sich abzeichnenden kalten Krieg. Die Auswertung der Daten im Badehaus 8 flossen mit ein in den Calvin Hoover Report, der am 10.9.1945 der Economic Division vorgelegt wurde, 2 Tage vor der Abgabe des Untersuchungsberichts der Gruppe, die den Morgenthauplan favorisierte. Der Hoover Report gab den Ausschlag zur Entscheidung für den Marshallplan, die Finance Division wurde aufgelöst. Die Uneinigkeit der Alliierten erschwerte allerdings die Ausarbeitung des Marshallplans, der erst ab 1948 umgesetzt wurde und an dem maßgeblich auch George F. Kennan beteiligt war. Als ehemaliger First Secretary der amerikanischen Botschaft in Berlin gehörte er 1941/42 zu den Internierten im Grand Hotel in Bad Nauheim.

Ende März 1946 wurde das Statistical Office mit 64 Mitarbeitern, die genau vom CIC- einen Vorgänger des CIA - geprüft worden waren, nach Berlin verlegt.

 

So wurde Bad Nauheim wie beim Aufbau er Deutschen Presseagentur auch für die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands nach dem Krieg zu einem wichtigen Schauplatz. Aber die Daten des Statistical Office im Badehaus 8 waren auch Grundlage für die Einrichtung der Statistischen Landesämter und es Statistischen Bundeamtes.

 

Nach der Gründung des Landes Groß-Hessen am 19.09.1945 bekam der damalige Ministerpräsident Prof. Geiler am 11.12.1945 von der Militärregierung die Anweisung „unverzüglich“ ein statistisches Amt für das neue Land einzurichten.

 

Vorsitzender des statistischen Ausschusses wurde Gerhard Fürst, Sachverständiger beim Sekretariat des Völkerbundes in Genf und Mitarbeiter in der Volkswirtschaftlichen Abteilung der IG-Farbenindustrie. Unter schwierigen Bedingungen mussten die überall verstreut vorhandenen Statistiken von Ministerien und Kommunen, Industriebetrieben usw. zusammengefasst werden, um eine übergeordnete zentrale Stelle einzurichten. In seinen Lebenserinnerungen schreibt Fürst:

 

„Hinsichtlich der Industrieberichterstattung fiel uns in Hessen die Eingliederung zu, denn die Stelle, die für die damalige Reichsgruppe Industrie die Industrieberichterstattung bearbeitet hatte, saß in Bad Nauheim in Badehäusern – buchstäblich auf abgedeckten Badewannen sitzend. Hier lag ein Warenverzeichnis vor, geschulte Kräfte waren vorhanden, und vor allem gab es Rechenmaschinen, die wir für den Aufbau der Ämter dringend brauchten. Einer unserer hessischen US-Offiziere nahm mich in einem Lastwagen mit nach Bad Nauheim und beschlagnahmte kurzerhand die Maschinen.“

Badezelle im Sprudelhof ca. 1916 - Online-Museum Bad Nauheim
Badezelle im Sprudelhof ca. 1916 - Online-Museum Bad Nauheim

Nach Kriegsende befanden sich in Hessen noch die 1861 gegründete „Großherzogliche Centralstelle für Landesstatistik, das Wirtschaftswissenschaftliche Institut Darmstadt, in Höchst die Landwirtschaftsabteilung des Statistischen Reichsamtes und eben die Reichsgruppe Industrie in Bad Nauheim mit ihren Hollerithmaschinen. Diese Institutionen wurden auf Grund der Organisationsanweisung Nr. 15 der amerikanischen Militärregierung im Januar 1946 als „Hessisches Statistisches Landesamt“ zusammengeschlossen, mit Sitz in Wiesbaden und zunächst bescheidenen 4 Abteilungen. Im Oktober 1946 wurde bereits die erste Volkszählung durchgeführt. Zu den auf gleiche Weise entstandenen Landesämtern in den neu aufgeteilten Bundesländern wurde als übergeordnete Zentralstelle das Statistische Bundesamt gegründet. Erster Präsident wurde Gerhard Fürst. Das Statistische Bundesamt (Destatis) befindet sich ebenfalls in Wiesbaden, und heute gibt es fast nichts, das nicht irgendwie erfasst wird. So können wir erfahren, wie viele Tassen Kaffee die Deutschen im Jahr trinken oder wie oft sie ihr Auto putzen.

 

 

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