BAD NAUHEIMER KURORCHESTER IM WANDEL DER ZEIT

WELTBAD BAD NAUHEIM

 

Das letzte Bad Nauheimer Kurensemble wurde Mitte 2015 verabschiedet und ersetzt durch die Bad Nauheimer Musikschule. Damit endete eine etwa 160 Jahre alte Tradition des Bad Nauheimer Kurmusikorchesters, die 1853 begann. Spielfreude, Virtuosität und Können waren unvergleichlich. Neben dem Baden in den Heilquellen und dem Trinken des Heilwassers nach Verordnungen der Badeärzte, dienten vor allem der Kurpark, gesellschaftliche Festivitäten im Kurhaus und die Kurmusik der Gesundung und dem Gesunderhalt des Kurgastes. Wir danken herzlich Eva-Maria Langsdorf, Tochter des berühmtesten unserer Dirigenten und Kurorchester-Chefs für die Darstellung dieses so wichtigen Aspekts der Kur und des Weltbades Bad Nauheim. ONLINE-MUSEUM BAD NAUHEIM, 23.10.2015

 

 

 

Das Bad Nauheimer Kurorchester im Wandel der Zeit

von

Eva-Maria Langsdorf

 

 

Nach der Gründung des Solbades Nauheim im Jahr 1835 stiegen die Besucherzahlen allmählich an. Daher begann man in dem kleinen, damals noch zum Kurfürstentum Hessen-Kassel gehörenden Städtchen über ein regelmäßiges Unterhaltungsprogramm für die Kurgäste nachzudenken.

 

Für das seelische Wohlbefinden der Kurgäste hat die Kurverwaltung bereits im Jahr 1837 die Anschaffung eines Klaviers zur Unterhaltung der Badegäste der ersten „Soolbadeanstalt“ beantragt, aber leider wurde dieser Antrag von der kurfürstlichen Regierung in Kassel abgelehnt.

 

So gründeten die Nauheimer 1843 den Männergesangverein Frohsinn zu diesem Zweck. Dieser Chor war damit zum Begründer der Kurmusik in Bad Nauheim geworden.

 

 Ab 1850 bis Ende 1852 gab es regelmäßige Konzerte von Militärkapellen und einer vom Pächter des Kurhauses engagierten „Musikgesellschaft“ von 14 Musikern, vorwiegend aus dem Frankfurter Theaterorchester, unter der Leitung von Franz Moritz Bohne.

 

1853 wurde ein erstes Kurorchester (20 Musiker) engagiert, von der Kurfürstlichen Regierung Kassel besoldet, unter der Leitung von Edmund Neumann.

 

Von 1854 bis 1872 wurde das Kurorchester unter Kapellmeister Edmund Neumann vom Spielbankpächter verpflichtet und bezahlt.

 

Ab 1873 verpflichtete und bezahlte die inzwischen Großherzogliche Badedirektion die Leiter der ständigen Kurkapelle, die von Anfang April bis Ende November mit etwa 20 Musikern spielte. Allmähliche Aufstockung der Kurkapelle unter dem

Großherzoglichen Musikdirektor Carl Machts auf 50 Musiker in großer Besetzung, wovon ein Ensemble für Tanz- und Operettenmusik abgetrennt wurde.


   Die Dirigenten des Kurorchesters Bad Nauheim von 1853 - 1933

Obere Reihe von links: Friedr. Rosenkranz - Carl Machts - José Eibenschütz

Mittlere Reihe von links: Julius Schröder - Edmund Neumann - Willy Naue

Untere Reihe von links: Hans Winderstein - Wilhelm Bruch - Heinz Bongartz



Der Notenbestand, bislang im wesentlichen Eigentum des Kapellmeisters, wurde auf Kosten der Badedirektion wirksam ergänzt. Das Kurpublikum, durchweg gut situiert, zeigte sich Anfang 1900 anspruchsvoll und verwöhnt, das Herzheilbad erreichte internationale Reputation. Die Bad Nauheimer Zeitung schrieb damals zutreffend: 


„Der primäre Kunstfaktor einer Badestadt wie der unseren wird immer ein gutes Orchester sein. So wertvoll die Darbietungen eines Kurtheaters an sich sein können, sie werden in ihrem Aufgabenkreis, wie in ihrer Wirkung niemals so entscheidend das ganze Kurleben zu beeinflussen vermögen, wie das Kurorchester“.

 

Daher gab es im Jahr 1902 Bestrebungen zur Neugestaltung der Kurmusik unter Einfluss des Darmstädter Hofkapellmeisters Willem de Haan durch Aufgliederung in ein kleines ganzjähriges Ensemble und Verpflichtung eines kompletten Orchesters für die Sommersaison.

 

Im Jahr 1903 wird mit dem Nürnberger Konzertorchester (40 Musiker) erstmals ein bestehendes Orchester als Sommer-Kurorchester unter dem Dirigenten Wilhelm Bruch verpflichtet.

 

1906 folgte Hofrat Prof. Hans Winderstein und sein Leipziger Philharmonisches Orchester. Dies war ein großer Glücksfall für Bad Nauheim, denn es handelte sich um einen hervorragenden Dirigenten von hohem künstlerischen Niveau, der sich einen gut geschulten, leistungsmotivierten Klangkörper aufgebaut hatte. Dieses Orchester hatte sich bereits in Leipzig neben den Gewandhauskonzerten von Arthur Nikisch einen festen Platz im Musikleben sichern können. In Bad Nauheim fand das 48köpfige Windersteinorchester von Beginn seiner Tätigkeit an starke Anerkennung. Es führte die Kurmusik und damit das Konzertleben unter dem Namen „Großherzogliches Kurorchester“ zu einem ersten Höhepunkt.


Das Windersteinorchester Leipzig

 

Man errichtete als Anbau an das neue Kurhaus ein repräsentatives Konzerthaus mit Jugendstil-Ausstattung, das den höchsten musikalischen Ansprüchen genügen sollte. Von Beginn an galt das neue Konzerthaus als wertvolle Bereicherung der Kureinrichtungen – und bald als glänzendes Podium für unzählige Künstler von Weltformat.




Mit einem großen Konzert wurde es am 16. Mai 1909 eingeweiht, und die Bad Nauheimer Zeitung schwärmte von einem „prächtigen Konzertsaal und einer da hineingehörenden Kapelle“.

 

Ab 1915 erhielt dieses Orchester die Bezeichnung „Staatliches Kurorchester Bad Nauheim“.

 

In diesem Jahr 1915 holte Prof. Hans Winderstein meinen Vater Willy Naue, damals 24jährig, als Konzertmeister und stellvertretenden Dirigenten in sein Orchester nach Bad Nauheim.

 

Die Bad Nauheimer Zeitung schrieb damals: 

„Es war am 1. November 1915 im Bad Nauheimer Kurhaus, nachmittags um 16:00 Uhr, als ein junger Konzertmeister und Dirigent, vom damals berühmten Königlichen Konservatorium für Musik und Theater in Leipzig erstmals seinen Taktstock erhob“.

 

Mit diesem Auftakt war für ihn das Startzeichen seiner Karriere gegeben: Er sollte nahezu 6 Jahrzehnte lang das Musikleben in Bad Nauheim maßgeblich prägen und zu einer markanten Persönlichkeit Bad Nauheims werden.

 

Willy Naue wurde am 1. Februar 1891 in Halle/Saale geboren. Nach Absolvierung seines Studiums am Königlichen Konservatorium für Musik und Theater in Leipzig und Geigenschüler bei Hans Becker war er im Gewandhausorchester Leipzig unter Arthur Nikisch tätig.

 

Willy Naue verließ die Badestadt nochmals 1921 und übernahm für drei Jahre die Leitung der Nachmittagskonzerte der Dresdner Philharmoniker, um sein Können zu vervollkommnen.

 

In die Zeit seiner Abwesenheit von Bad Nauheim fällt auch ein Jahr Finnland-Aufenthalt auf Einladung des Komponisten Frans Oskar Mericanto, in dessen Haus er Jean Sibelius persönlich kennenlernte.

 

Trotz erfolgreicher Gastspiele und verlockender Angebote großer Opern- und Konzerthäuser, z.B. in Köln, Stuttgart, Hamburg und Frankfurt kehrte Willy Naue 1926 endgültig nach Bad Nauheim zurück. Mittlerweile zum Musikdirektor ernannt, widmete er sich vollständig dem badestädtischen Musikleben.

 

Konzerte entwickelten sich zunehmend zu gesellschaftlichen Ereignissen. Gespielt wurde nicht nur im Konzerthaus, sondern auch auf der erweiterten Kurhausterrasse im neu erbauten Musiktempel, ebenfalls im Jugendstil gestaltet, und bei den allmorgendlichen Frühkonzerten in der neuen Trinkkuranlage.

 

In der Saison 1912 mit einem Rekordbesuch von 35000 Gästen hatte das Kurorchester 160 Terrassenkonzerte, 150 Frühkonzerte, 12 Sinfonie-, 8 Künstler- und 3 Extrakonzerte bestritten. Dazu kam die Beteiligung an 18 Opern- und Operettenvorstellungen – überwiegend in die Inszenierung des Giessener Stadttheaters, Staatstheater Wiesbaden und der Frankfurter Oper.

 

Als unübertroffener Höhepunkt der Bad Nauheimer Musikgeschichte galt der Abend des 5. Juni 1917. Als Dirigent seiner eigenen Werke wurde der berühmte Komponist Richard Strauss im überfüllten Konzertsaal von 1.700 Menschen stürmisch gefeiert. Das Kurorchester war für diesen Abend auf 110 Mann verstärkt worden.

 

Eine weitere glanzvolle Veranstaltung dieser Zeit war ein Konzert mit dem berühmten Pianisten Wilhelm Backhaus, ein „Monsterkonzert“ zu Ehren des 25jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. mit dem auf 200 Mann verstärkten Kurorchesters und Beethovens 9. Sinfonie mit dem erweiterten Chor des Musikvereins Darmstadt und Solisten des Großherzoglichen Hoftheaters.

 

Trotz Inflation und den damit verbundenen Schwierigkeiten wurde Mitte 1923 ein großes neues Bühnenhaus an das Konzerthaus angebaut, sodass dem Musiktheater die Möglichkeiten für funktionsgerechte, technisch einwandfreie Darbietungen eröffnet wurden. Die ausländischen Kurgäste waren des Lobes voll über das, was sie hier geboten bekamen, aber nicht nur sie, sondern auch Gäste aus der Umgebung waren treue Anhänger und Besucher.

 

Mit dem plötzlichen Tod von Hans Winderstein im Juni 1925 ging ein charakteristischer Abschnitt in der Geschichte der Kurmusik zu Ende.

 

Nun folgte eine Übergangsphase. Neben den Nachmittags- und Abendkonzerten verpflichtete man für Sinfoniekonzerte jeweils auswärtige Dirigenten, z.B. Prof. Hermann Abendroth (Leiter der Gürzenichkonzerte in Köln), einer der führenden Dirigenten neben Furtwängler und Nikisch.


Nachfolger von Winderstein wurden José Eibenschütz (vom Philharmonischen Orchester Oslo) für 2 Jahre.

 

Ab 1928 kam Heinz Bongartz aus Krefeld. Er führte das hiesige Musikleben zu einem neuen Höhepunkt. Das erste Jahr arbeitete er noch mit dem seitherigen Orchester und mit dem Frankfurter Symphonieorchester, welche er wieder zur künstlerischen Hochleistung brachte.

 

1929 und 1930 brachte Bongartz das Meininger Landesorchester, ergänzt aus anderen Orchestern des Thüringischen Staates, als Kurorchester nach Bad Nauheim. Dies führte das Bad Nauheimer musikalische Niveau auf eine zuvor nicht gekannte Höhe. Er holte hochkarätige Künstler großer Bühnen nach Bad Nauheim, wie z.B. 1930 die Opernaufführung „Don Giovanni“ von Mozart mit dem berühmten Tenor der Berliner Staatsoper, Helge Roswaenge. Oder die Aufführung der „Meistersinger“ mit dem gefeierten Bariton Rudolf Bockelmann unter der Gesamtleitung von Prof. Dr. Karl Böhm, um nur einige zu nennen.


Das Meiniger Landesorchester mit Dirigent Willy Naue (4.von rechts)

 

Von 1931 bis 1934 spielte das Städtische Orchester Mainz als Kurorchester. Mit diesen beiden Orchestern konnte Generalmusikdirektor Heinz Bongartz die hohen Aufgaben lösen, die in dieser Zeit gestellt wurden.


Das Städtische Orchester Mainz mit Willy Naue (6. sitzend von rechts)



Ende der Saison 1933 folgte Heinz Bongartz einem Ruf an das Staatstheater Kassel.  Die Weltwirtschaftslage machte sich schon seit einiger Zeit bemerkbar. Bongartz´s Nachfolger, Walter Stöver, musste mit eingeschränkten Finanzmitteln auskommen.

 

Nach seinem Weggang 1938 übernahm Musikdirektor Willy Naue, seit 1926 Musikdirektor, Konzertmeister und stellvertretender Dirigent bei Winderstein, Eibenschütz, Bongartz und Stöver die Gesamtleitung der Konzerte.  Bereits 1935 wurde das Giessener Stadttheater-Orchester mit 50 Mann verpflichtet.

 

Bis 1941 wurden neben den eigentlichen Kurkonzerten (Frühkonzerte in der Trinkkuranlage, Nachmittags- und Abendkonzerte im Kurhaus, Terrasse oder Saal, auch wieder vermehrt Sinfonie- und Philharmonische Konzerte, aufgestockt auf 60 bis 80 Musiker, aufgeführt. Es konnten erstklassige Solisten gewonnen werden, u.a. Prof. Ludwig Hoelscher, Prof. Elly Ney, den Tenören Marcel Wittrich, Helge Roswaenge, Walter Ludwig, dem Bariton Karl Schmitt-Walter, alles gefeierte Spitzenkräfte der Berliner Staatsoper.

 

Ein herausragendes Konzert in dieser Zeit war im August 1940 ein festlicher Rokoko-Abend, ein Mozartkonzert, im kleinen Bühnensaal des Kurhauses, der durch seine prachtvolle Ausstattung in weiß-goldenem Glanz mit entsprechenden Vorräumen bekannt war.

 

Musiker, Musikdirektor Willy Naue und die Gesangssolistin, Lotte Köhring vom Reichstheater Wiesbaden kamen in farbenprächtigen Mozartkostümen mit weißen Perücken auf die Bühne. Die Welt des Rokoko mit ihrem Charme schien lebendig geworden zu sein. Für diesen unvergesslichen Abend dankten die zahlreichen Zuhörer mit herzlichem und lang anhaltendem Beifall.


Mozartkonzert 1940 in festlichen Rokoko-Kostümen

Die Saaldiener und die Platzanweiserinnen trugen auch dementsprechende Mozartkostüme.


 

Ab Sommer 1941 versuchte man unter zunehmenden kriegsbedingten Problemen mit dem Rhein-Mainischen Landesorchester die Kurmusik weiterzuführen. Wie im ersten Weltkrieg waren es hauptsächlich verwundete Soldaten aus den Lazaretten, die man ablenken und erheitern wollte.

 

Im Jahr 1943 kam aus Sicherheitsgründen der damalige Reichssender Frankfurt (heute Hessischer Rundfunk) ins Kurhaus nach Bad Nauheim. Konzerte des Großen Rundfunkorchesters wurden versuchsweise gesendet und nach dem Bombardement Frankfurts im März 1944 wurde Bad Nauheim Sendestadt und damit das Kurhaus zum Funkhaus mit Aufnahme-, Konzert- und Sendesälen.          

 

Rundfunkkonzert 1943

 

 

Am 20. Juli 1944 fielen dann bekanntlich Brandbomben auf Bad Nauheim. Sie zerstörten den kleinen Bühnensaal des Kurhauses, das Bühnenhaus, den Musiktempel auf der Terrasse und vernichteten einen Teil des Notenarchivs.

 

Den großen Konzertsaal rettete der geschlossene eiserne Schutzvorhang vor der Zerstörung. Kurz darauf wurden alle Konzerte eingestellt. Der Wiederbeginn nach Kriegsende gestaltete sich schwierig. An Kulturleben und Badebetrieb war zunächst nicht zu denken. 


Einige Jahre lang hielten die Besatzer viele Hotels, Pensionen, die Verwaltungsgebäude des Staatsbades, den größten Teil der Badehäuser und die Trinkkuranlage beschlagnahmt. Der intakt gebliebene große Saal des Kurhauses durfte von Deutschen nur zeitweise benutzt werden.  Dennoch bemühte sich mein Vater Willy Naue und eine handvoll Idealisten darum, möglichst bald wieder ein Kur- und Sinfonieorchester aufzubauen. Er verzichtete ein Jahr lang auf sein Gehalt, damit die Kurverwaltung die Musiker und damit ein Orchester wieder bezahlen konnte.

 

Dafür erhielt er 1959 in Anerkennung seiner Leistungen das Bundesverdienstkreuz am Bande vom Bundespräsidenten verliehen. Die entsprechende Urkunde trug, wohl als eine der letzten, die Unterschrift von Theodor Heuss. 


Kurdirektor Dr. Kleinert sagte in Rahmen einer kleinen Feier hierzu:

„Große Verdienste habe sich Willy Naue auch um den Wiederaufbau des Orchesters nach beiden Kriegen erworben. Besonders nach 1945, als das kulturelle Leben in Bad Nauheim auf dem Nullpunkt angelangt war, habe er aus dem Nichts ein neues Orchester geschaffen. Heute habe das Orchester wieder das gleiche hohe Niveau wie vor dem Krieg erreicht, dank Musikdirektor Willy Naue“.

 

Willy Naue dankte mit bewegten Worten für die Auszeichnung und sagte, dass er das Verdienstkreuz gleichzeitig auch als Anerkennung für die Leistungen seiner Musiker betrachte. Er selbst sei stets bestrebt gewesen, Heilungssuchenden mit seiner Musik Freude zu bereiten und so zur Genesung beizutragen. Seine Arbeit, so führte Naue weiter aus, sei immer von der Liebe zu Bad Nauheim diktiert worden. Es gebe noch zahlreiche Wünsche und Ziele, die er noch nicht erreicht habe. Er hoffe jedoch noch lange musizieren zu dürfen, denn solange er am Dirigentenpult stehe, sei er auch gesund.

 

1948 konnte man für rund 9000 Gäste, die nach Bad Nauheim kamen, und für Einheimische ein entsprechendes Konzertangebot bieten. In den 50er Jahren verstärkte sich der Aufwärtstrend des Kurbetriebs erheblich. Die zerstörten Teile des Kurhauses wurden wieder aufgebaut, eine neue Konzertmuschel auf der Südseite der Terrasse errichtet. 1960 kam ein kleiner Konzertsaal dazu. Jedoch war es dem Staatsbad unmöglich, weiterhin ein eigenständiges Orchester zu unterhalten und so war die erneute Verpflichtung des Giessener Stadttheater-Orchesters während der Sommermonate von 1958 bis 1966 eine gute Lösung. Allerdings musste das etwa 50köpfige Orchester meist an ungewohnten Plätzen musizieren: am Teichhaus, auf dem Johannisberg, unter den Arkaden im Sprudelhof, im Park am Café Dörig oder vor dem Medizinischen Institut. Allmählich gastierten auch wieder das Stadttheater Gießen und das Landestheater Darmstadt mit Opern und Operetten.

 

Dass dieses Gießener Orchester seiner Aufgabe als Kurorchester hervorragend gerecht geworden ist, zeigten die hohe Anerkennung und Beliebtheit seitens der Zuhörer. Die Wetterauer Zeitung schrieb am 2.10.1959:

„ Das Gießener Stadttheater-Orchester hat es in bewundernswürdiger Zeit verstanden, sich im Klima eines Heilbades einzugliedern; in ihm hat Bad Nauheim einen Klangkörper, der vom Sinfoniekonzert bis zum leichten Unterhaltungskonzert alles beherrscht und mit derselben Liebe und Hingabe spielt, die es seinem Dirigenten Willy Naue ermöglicht, jede Feinheit klanglich aus ihm herauszuholen“.


Musikdirektor Willy Naue

 

 

Es war eine anstrengende Aufgabe, der sich Willy Naue verschrieb:

In den Sommermonaten im Durchschnitt zwei Konzerte täglich, dazu Proben, Sonderkonzerte, Besprechungen mit der Kurverwaltung – ich bin praktisch von 8 Uhr morgens bis 11 Uhr abends im Dienst – berichtete er in einem WZ-Interview.


„Manche Stunde des Tages bringe er in der Notenkammer mit dem Zusammenstellen der täglichen Konzertprogramme zu, die im Sommer auf eine Woche, im Winter auf 14 Tage im Voraus festgelegt werden. Das ernste Studium sinfonischer Werke, die geistige und technische Einfühlung in die Partituren, die Einbeziehung biografischer Daten eines Komponisten zum Erfassen eines Werkes, erfordere eine besonders intensive Vorbereitungsarbeit, denn „Noten sind tote Köpfe, sie müssen erst zum Klingen gebracht und damit zum Leben erweckt werden“. Gewissenhafte Interpretation eines Orchesterwerkes, auch des leichtesten, verlange strenge Konzentration.“


  Das Sortieren und die Verwaltung der Partituren liegt in den zuverlässigen und bewährten Händen seiner beiden Notenarchivare, Herr Salzmann und Herr Schmidt.

 


Zu den Sinfoniekonzerten, Serenadenabenden und Sonderkonzerten wurden namhafte Künstler des In- und Auslands verpflichtet, wie z.B. Elly Ney, Ludwig Hoelscher, Maria Kalamkarian, Tibor Varga, Branka Musulin, Willy Schmidt, Wolfgang Windgassen, der Harfenistin Rose Stein, um nur einige zu nennen. Es gab Sinfoniekonzerte der berühmtesten Komponisten: Beethoven, Wagner, Mozart, Brahms, Bruckner, Tschaikowsky, Dvorak, Sibelius und andere mehr.

 

Pianistin Elly Ney mit Musikdirektor Willy Naue bei der Probe

 

 

Die berühmte Pianistin Prof. Elly Ney schrieb im September 1964 anlässlich eines Beethoven-Sinfoniekonzertes in das Autogrammbuch der Kurverwaltung:

 

„Schon oft führte mich mein Weg hierher, wo das Musikleben in so zuverlässigen Händen durch Musikdirektor Willy Naue liegt. Selten habe ich eine solch lebendige Hingabe an das Werk, wie beim Es-Dur-Konzert und der Dritten Symphonie Eroica durch Dirigent und Orchester erlebt.“

 

Und weiter:

„Wir haben schon viel Schönes unter der Stabführung von Naue von diesem Orchester gehört; wir kennen seine verantwortungsvolle, bis in die Fingerspitzen verantwortliche Dirigentenschrift und die Möglichkeiten und klanglichen Ausgewogenheiten dieses ausgezeichneten Orchesters. An diesem Abend aber haben sich beide selbst übertroffen“.

 

Willy Naue sah seine Arbeit in erster Linie als Teil einer Therapie für den leidenden Mitmenschen. Neben Bädern, medizinischer Umsorgung und der Wirkung landschaftlicher Schönheit sollte Musik ein Heilfaktor sein, der dem Kranken helfe, sein inneres Gleichgewicht wieder zu finden. Die Musik erreiche eine seelische Auflockerung, ermögliche Entspannung und vermittle geistige Anregung. Leider konnte aus Kostengründen Ende der 60er Jahre dieses niveauvolle Angebot seitens der Kurverwaltung nicht mehr aufrechterhalten werden. So wurde das Kurorchester systematisch verkleinert. Eine eigene Kapelle mit Stammusikern aus Bad Nauheim spielte ab 1969 nun ganzjährig. Sie umfasste erst 24, dann 16, schließlich 14 Musiker.

 

Stets verbindlich und geduldig im Umgang mit den Ensemblemitgliedern, konnte Naue auch mit einem verkleinerten Orchester seine Intension von Kurmusik verwirklichen. Musikdirektor Willy Naue dirigierte die regelmäßig veranstalteten Sonderkonzerte mit dem großen Orchester, verstärkt durch Gießener Musiker. Sie erfreuten sich großer Beliebtheit und brachten durchaus nicht nur vordergründig Populäres, musikalische Leichtgewichte sozusagen, sondern ebenso klassische exquisite Darbietungen.

 

Die WZ schrieb hierzu:

„Die Sonderkonzerte des großen Kurorchesters unter MD Willy Naue sind seit langem der Kurgäste liebstes Kind und fester Bestandteil der Programmgestaltung der Kurverwaltung. Nicht nur der gute Besuch der Veranstaltungen gibt davon Kenntnis, auch in Gesprächen kommt immer wieder zum Ausdruck, wie viel Freude diese Sonderkonzerte schenken.“

 

Noch mit 81 Jahren stand Willy Naue bei diesen Sonderkonzerten am Dirigentenpult. Er starb im Alter von 84 Jahren im April 1975. Die Bad Nauheimer Kurzeitung schrieb in einem Gedenkblatt zu seinem Tode:

„Behalten wir ihn und ein Wort, das er einmal in der Wetterauer Zeitung schrieb, in bleibender Erinnerung:

„Bei aller Dosierung heiterer und ernster Musik (unter Berücksichtigung des Wertes der Stücke) kann diese volkstümlichste aller Künste, die auch als internationale Sprache bezeichnet wird, ein wahres Wunder vollbringen, nämlich das Vertrauen zum Leben erhalten und den Wert des Lebens erhöhen!“

 

Es erfüllt mich mit Stolz, dass es mir 2010 gelungen war, im Hinblick auf die große Musiktradition Bad Nauheims und als Andenken an meinen Vater, das Giessener Stadttheater-Orchester, natürlich heute unter dem Namen: Philharmonisches Orchester des Stadttheaters Gießen, im Rahmen eines Benefizkonzertes zugunsten des Vereins Bad Nauheimer Museen noch einmal nach 50 Jahren mit einem Mozartkonzert nach Bad Nauheim zu holen.

 

Es war nicht ganz einfach. Nach anfänglichem Widerstand der Intendantin des Stadttheaters, aber mit Unterstützung des Dirigenten des Philharmonischen Orchesters, Generalmusikdirektor Carlos Spierer – er war von unserem Jugendstiltheater mit seiner hervorragenden Akustik begeistert - , gelang es mir schließlich doch mit finanzieller Hilfe einiger Sponsoren das Konzert zu organisieren.


 

 

Die Wetterauer Zeitung schrieb hierzu am 18. Oktober 2010:

„Glanzvolle Rückkehr eines Ensembles nach 50 Jahren. Auch ohne die Vorgeschichte zu dem großen Mozartabend im Jugendstiltheater des Hotel Dolce würde er als besonders glanzvoll in die Annalen der Stadt eingehen. Nimmt man zur brillanten Musik mit einem exzellenten Orchester unter hervorragendem Dirigat und beeindruckenden Solisten aber die Historie und den Zweck des Benefizkonzertes hinzu, so geht die „Rückkehr eines Orchesters nach 50 Jahren“ regelrecht zu Herzen. Tosender Beifall und Bravorufe legten äußeres Zeugnis davon ab, dass Bad Nauheim begeistert war vom Konzert des Philharmonischen Orchesters und der vier Solisten vom Stadttheater Gießen“.

  

Ab 1985 übernahm ein polnisches Orchester mit 10 Musikern von April bis Oktober und ab 1987 ein ungarisches Orchester mit 12 Musikern die Kurmusik. Aus diesem ungarischen Orchester, dessen Musiker alle über eine Konservatoriumsausbildung verfügten, ist das langjährige Kurensemble unter der Leitung von Janos Kekesi hervorgegangen.

 

Seit 1996 leitete Janos Kekesi dieses Kurensemble, das in den letzten 30 Jahren in Galaformation von 10 bis 12 Musikern als Sommerbesetzung für 2 Monate auftrat, dann wieder als Quartett den „Winterbetrieb“ übernahm. Das Quartett verschönerte den Alltag mit täglichen Kurkonzerten, mit Themen-, Wunsch- und Sonderkonzerten, Tanztees und Jazz-Frühschoppen. Sein Repertoire reichte von Ouvertüren, Operetten- und Opernmusik über Märsche, Walzer, Polkas und Suiten bis hin zu ungarischen Weisen, Tanzmusik und Elvisklassikern.

 

Leider ist Herr Kekesi im September 2014 verstorben. Wir haben ihm und seinen Musikern viel zu verdanken.

 

 Kurensemble Bad Nauheim

 


Für mich gehört ein bisschen Wehmut dazu, wenn ich diese große Geschichte der Bad Nauheimer Kurmusik durchwandere, aber umso mehr habe ich mich gefreut, dass das Kulturamt der Stadt Bad Nauheim, und da meine ich Herrn Lenz, seit nunmehr 28 Jahren eine Sinfoniekonzertreihe im Kurtheater etabliert hat, die heute vom Förderverein Sinfonische Musik getragen wird, mit einem hervorragendes Orchester mit Mitgliedern des Frankfurter hr-Sinfonie-orchesters unter der Leitung von Uwe Krause. Somit ist ein Andenken an die Musiktradition Bad Nauheims gewahrt.

 

Gestatten Sie mir zum Schluss Ihnen noch einige Bilder meines Vaters, Musikdirektor Willy Naue, zu zeigen, er war der letzte Dirigent des einstigen Bad Nauheimer Kurorchesters:

 

Eintritt in das Windersteinorchester 1915

Ca. 1940


Ca. 1970

Gemälde von Helga Jäger

 


 

Herzlichen Dank für Ihr Interesse!

Ihre Eva-Maria Langsdorf

 





2015:

Verabschiedung des letzten Kurensembles und Übergabe an die Musikschule Bad Nauheim